In kosmischen Bahnen drehen sich Schauspieler-Planeten umeinander.
Seit Kopernikus ist DAS die Revolution.

Aus einer Spieluhr tönt die Internationale, ein Buch fällt auf die Bühne.

Im Anfang war das Wort: Что делать [Chto delat].

Was tun? Das Neue!

 

Wir schauen auf die Revolutionszeit, dahin, wo sich 19. und 20. Jahrhundert in einzigartiger Weise verdichten, sei es künstlerisch, politisch oder in Utopien vom „neuen Menschen“. Unser Rückblick erzeugt eine groteske Versammlung der Untoten, wenn wir Dostojewskis Dämonen beschwören, Lenins Mumie erwacht, Marx' Gespenster mit dem kapitalistischen Geist ringen, es biokosmistische Vampire nach Unsterblichkeit dürstet oder Juri Gagarin im Reagenzglas aufersteht. Wir untersuchen die Utopien der Revolutionszeit in ihrer Bildsprache, Musik, Theorie, Bewegungskonzepten, in Romanen wie Theaterstücken. Dabei erliegen wir weder naiver Glorifizierung noch pauschaler Verurteilung, sondern bringen die Verbindung von Utopie als Hoffnung, Fetischisierung und Abgrund auf die Bühne.

 


Ein Bühnenraum voll Beton, nüchtern und funktional.

Im Nebel die Überreste des stählernen Tatlinturms, Symbol des sowjetischen Aufbruchs.

Die Lokomotive der Geschichte, mit dem verplombten Waggon im Gepäck, dreht unaufhaltsam ihre Bahnen durch den Raum, eine Spycam an ihrer Spitze. Bahn-TV auf großer Leinwand, das Publikum als Komplize. Im Radio läuft ein alter Hit: „Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte...“ Gedankenverloren folgen wir, während der Zug schon auf uns zu rast. Müssen wir jetzt „hart aber fair“ Opfer bringen oder mit Walter Benjamin die Notbremse ziehen?

 

Russland, 1901: TschechowsDrei Schwesternträumen vom wahrhaftigen Leben, während die FigurTusenbach schwadroniert:„Etwas Riesenhaftes rollt auf uns zu, etwas Ungeheuerliches, ein mächtiger Sturm wird unserer Gesellschaft die Trägheit aus den Knochen schütteln und sie aus allen Fugen krachen lassen.“ Die Bürger sprechen gern über die Welt, ihre konkrete Veränderung scheint kaum vorstellbar. Doch schon 1905, ein Jahr nach Tschechows Tod, erschüttert ein revolutionäres Beben das rückständige Russland. 1917 wird es dann durch zwei Revolutionen umgewälzt und in eine ungewisse Zukunft katapultiert.

»Das Geschoß hat eingeschlagen und zertrümmert ein Reich, eine Welt.«
Stefan Zweig,Sternstundender Menschheit


Im Ringen um die neue Gesellschaft treffen unterschiedlichste Entwürfe aufeinander. Neben künstlerischen Avantgarden und Parteistrateg*innen organisieren sich zahlreiche intellektuelle Zirkel, die die neue Gesellschaftsordnung als Ausgangspunkt einer radikalen Utopie sehen. Denken und Handeln überschlagen sich förmlich, man diskutiert und erforscht gesellschaftliche Entwürfe, die heute kaum noch vorstellbar scheinen. Im Zuge der fundamentalen gesellschaftlichen Umstrukturierung soll die Menschheit alle natürlichen Fesseln abschütteln, selbst an der Abschaffung des Todes wird geforscht. Dieses Denken entsteht nicht erst im revolutionären Moment, sondern schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So fordert Nicolai Fedorow in seiner „Philosophie des gemeinsamen Werkes“ ein unbeschränktes „Recht auf Sein“. Die Verheißungen des Christentums, wie Auferstehung und Unsterblichkeit, seien durch politische Entschlossenheit und Technik bereits im Diesseits möglich. Fedorows Denken prägt, neben besagten intellektuellen Zirkeln, die Autoren der Zeit wie Tolstoj, Dostojewski oder Gorki. Letzterer mutmaßt, der Mensch würde bald „die interplanetaren Räume erobern, den Tod besiegen und all seine Krankheiten und inneren Mängel, und dann wird höchstwahrscheinlich das Paradies auf Erden sein.“



»Die Vereinigung aller Wissenschaften in der Astronomie ist das Einfachste […] zur tatsächlichen Auferweckung oder zur Regulierung aller Welten durch alle auferweckten Generationen.«

Nicolai Fedorov, Memorandum


Durch die Revolution erlebt das utopische Denken einen ungeheuren Aufschwung und vermag, mehr noch als die marxistische Theorie, große Teile der russischen Intelligenz für das revolutionäre Projekt zu gewinnen. Die Utopie wird konkret: Bogdanov versucht die Unsterblichkeit durch Bluttransfusionen zu erreichen, Vasil'ev will „Gehirnstrahlung“ als Energiequelle nutzbar machen und der Bibliothekar Ciolkovskij berechnet Aufzüge in den Weltraum. All dies nicht zuletzt, damit die auferstandenen Vorfahren den Kosmos besiedeln und den „interplanetaren Kommunismus“ verwirklichen können. Wie nah diese Utopien an der Dystopie sind, zeigt sich z.B. in den hymnischen Texten Alexej Gastevs, der sich den neuen Menschen völlig technokratisch als Maschine vorstellt: mit Kinoaugen, Elektronerven, Hirnmaschine und Arterienpumpe. Die emphatischen Entwürfe der neuen Gesellschaft verbinden sich mit Manipulation, Kontrolle und grenzenloser staatlicher Biomacht. Michail Bulgakow rechnet in Hundeherz mit dieser Vorstellung ab: der neue Mensch erscheint als chirurgisch „verbesserter“ Hund.

 

"Ich glaube allerdings, daß ohne die Vorstellung eines, ja, fessellosen, vom Tode befreiten Lebens der Gedanke [...] der Utopie überhaupt gar nicht gedacht werden kann."

Theodor W. Adorno, Möglichkeiten der Utopie heute

 

Als Konsequenz aus der Geschichte scheint Utopie im heutigen „kapitalistischen Realismus“ den meisten undenkbar. Laut Slavoj Žižek wirkt sogar die Auslöschung allen Lebens durch einen Asteroiden vorstellbarer, als eine Veränderung unseres Wirtschaftssystems. Doch Spuren des utopisch-prometheischen Denkens existieren, mit all ihren Ambivalenzen, bis heute. So fordert der „Transhumanismus“ eine Vervollkommnung des menschlichen Körpers durch die Technik und wird - siehe Pränataldiagnostik, Neuro-Enhancement oder Selftracking - schleichend zur selbstoptimierenden Norm. Aber auch linke Gegenentwürfe suchen Anleihen beim utopischen Denken dieser Zeit, wenn z.B. der Akzelerationismus als Gegenentwurf zum Kapitalismus eine „prometheische Politik der größtmöglichen Beherrschung der Gesellschaft und ihrer Umwelt“ fordert. Und selbst die Überwindung des Todes scheint noch Autoren wie Adorno, Marcuse oder Bloch notwendig für die Vorstellung eines wirklich befreiten Lebens.

»Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.«

Heiner Müller, Der Horatier



Wir untersuchen die
sozialen Utopien der Revolutionsjahre und fragen: Wie entstehen ihre radikal neue Sprache, ihre Bewegungen, ihre Bilder? Wie aktuell ist diese utopische Zeit heute, wo der Kapitalismus sich als alternativlos darstellt? Wie umgehen mit der Erzählung, die Revolution und Stalinismus gleichsetzt? Die die Opfer zur Rechtfertigung der kapitalistischen Gegenwart missbraucht? Drei Schauspieler*innen kämpfen sich durch einen surrealen Strudel der Bilder, Worte, Klänge und Bewegungen der Zukunft von gestern.